Erling Kagge: Stille

Stille – welch ein kostbares Gut in einer Zeit, in der immer mehr real-time geschieht, in der der Radius des Menschen immer größer wird, in der er das, was er sieht innerhalb von Sekunden weltweit verbreiten kann, er aber auch von solchen verbreiteten Bilderflut selbst überschwemmt wird, eine Flutkatastrophe der anderen Art. Jugendliche beschweren sich bei der Konfirmationsfeier, daß im dörflichen Gemeindehaus kein WLAN zur Verfügung steht und sie tatsächlich gezwungen sind, sich selbst zu beschäftigen, sich sogar mal zu unterhalten oder Fantasie zu entwickeln…

Das norwegische ‚Multi-Talent‘ Erling Kagge (er wird als Verleger, Autor, Jurist, Kunstsammler und Abenteurer vorgestellt [1]) hat ein Buch vorgelegt, eine Sammlung von dreiunddreißig sehr persönlichen Antworten auf die Fragen: Was ist Stille? Wo ist sie? Warum ist sie heute wichtiger denn je?

Stille ist auch für mich persönlich ein Thema, mit dem ich mich stetig auseinandersetze [3], deswegen möge man es mir nachsehen, wenn ich etwas weiter aushole bei meinen Gedanken zum Buch. Als Hinweis: die in runden Klammern gesetzten Ziffern/Zahlen beziehen sich auf die entsprechenden Kapitel des Buches.

Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal für ein Wochenende zur Kontemplation in ein Kloster fuhr, war ich auf das Schweigen vorbereitet, dann aber sehr erstaunt, als uns dann vom Kursleiter auch noch ans Herz gelegt wurde, nicht zu lesen, kein Radio oder Fernsehen zu schauen etc pp. Dabei hatte ich mir doch extra schöne Bücher mitgenommen!

Jedoch, das war die erste Lektion, ist Stille nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, Stille ist etwas Eigenes, eine eigene Qualität, sie ist auf tieferer Stufe das Eintauchen in eine andere Welt, in die Innenwelt des Selbst, indem ich die Tür nach außen möglichst schließe, Reize, auch visuelle, möglichst meide, wie die drei Affen: nicht schauen, nicht lesen, nicht hören… Das, was einem dort begegnet, ist nicht unbedingt schön. Chaos. Dieses Wort benutzte Abramovic, um zu beschreiben, was sie in der Wüste erlebte. Obwohl es um sie herum ganz still war, gingen ihr die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf. Sie bemühte sich, Ruhe zu finden, mitten in der Stille. Erinnerungen und Gedanken wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit. Es kam ihr wie eine leere Leere vor, obwohl das Ziel war, eine erfüllte Leere zu erleben, wie sie sagt. Die leere Leere war so unangenehm, dass sich noch immer lebhaft davon erzählt. In die Stille zu gehen die mehr ist als nur die Abwesenheit von Geräuschen, ist also eine Herausforderung, für die die Künstlerin (The Artist is Present [2]) jedoch eine Antwort fand (27):

Alles dreht sich um die Atmung

Äußere Stille und innere Stille sind unabhängig voneinander, nichtsdestrotz ist das Aufsuchen und Aushalten äußerer Stille der erste Schritt. Ich kann in einen schallisolierten Raum sitzen und doch in mir Gefühle und Gedanken toben hören, die lauter sind als vorbeifahrenden Autos es wären. Umgekehrt kann ich in einem lauten Raum sitzen und doch innerlich in (völliger) Ruhe verharren. Die Stille, auf die ich aus bin, ist die Stille in mir. (4) In einem der Klöster, die ich besuche, gab es jahrelange Renovierungsarbeiten in den Gästehäusern. So erlebte man dort durchaus Schweigetage mit Begleitung von Presslufthämmern, die natürlich nicht zu überhören waren, aber wir lernten, sie nur noch wahrzunehmen und uns nicht mehr davon stören zu lassen. Alles dreht sich um die Atmung. (27)

Derjenige, so zitiert Kagge den norwegischen Dramatiker Jon Fosse, der nicht über die Macht der Stille staunt, fürchtet sich vor ihrUnd das ist wohl der Grund, warum so viele vor der Stille Angst haben (deshalb gibt es auch überall, wirklich überall diese Muzak). Als ich letztens mit der Bahn auf die Frankfurter Buchmesse fuhr, fiel mir genau dies wieder auf: von zehn Fahrgästen hatten bestimmt sechs oder sieben Stöpsel im Ohr. Weiter schreibt Kagge über sich und seine eigene Reaktion dazu: Ich erkenne die Angst wieder, … Eine Angst, die bewirkt, dass ich allzu schnell meinem eigenen Leben aus dem Weg gehe. Stattdessen beschäftige ich mir irgendwie, vermeide die Stille und tue das Naheliegende. … (alle Zitate aus 1) Das ist der Punkt. In der Stille begegne ich mir unvermeidlich selbst mit meinen Ängsten, mit meinem Zorn, meiner Wut, meiner Liebe möglicherweise auch, fällt mir meine Hab- und Selbstsucht und anderes mehr auf: all das Verdrängte, Zurückgeschobene tritt zu Tage…

In seiner ersten Antwort geht Kagge kurz auf eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, dem Staunen, ein. Das Staunen gehört zu den stärksten Kräften, die uns in die Wiege gelegt wurden. (1) Im Staunen also werden wir wieder zu Kindern, die das ‚Erstaunliche‘ einfach und ganz unvermittelt wahrnehmen, das Staunen versetzt uns schlagartig in die Gegenwart, wir sind nicht mehr durch Erinnerung in der Vergangenheit und durch Planung in der Zukunft, sondern wir sind beim Staunen im Hier und Jetzt. Aus dem wir jedoch sofort wieder herauskatapultiert werden, wenn das Denken („was ist das denn? sieht aus wie….“) einsetzt…

Ich mag die Vorstellung, dass das Erleben von Stille in erster Linie ein Ziel an sich ist. Es hat einen eigenen Wert und sollte nicht gewogen und gemessen werden, wie so vieles andere, aber Stille kann auch ein Hilfsmittel sein. (18) „Jetzt sei doch mal still!“ Daß es sich ohne Ablenkung besser denken oder überlegen läßt, möglicherweise auch kreative Lösungen für Probleme auftauchen können, ist wohl jedem schon im Alltag untergekommen. Wittgenstein, den Kagge nennt, beispielsweise hat seinen Tractatus logico-philosophicus in der norwegischen Einsamkeit geschrieben. Daß Stille ein Weg ist zur Selbsterkenntnis, ist schon gesagt, Stille ist jedoch auch ein probates Mittel, Gehör zu erlangen: in der Musik sind die Pausen genauso wichtig wie die Klänge (bei John Cage mit 4’33“ ins Extrem gesteigert), routinierte Redner bauen bewusst Pausen in ihre Texte ein, um durch diese Stille Wirkung zu erzielen. Viele der Antworten Kagges drehen sich um solche Beispiele, wie Stille als Hilfsmittel, als Methode, etwas (besser) zu erreichen, eingesetzt wird/wurde/werden kann.

Der Abenteurer Kagge, der sowohl Nord- als auch Südpol erreicht, ferner den Chomolungma (Mt. Everest) bestiegen hat, kennt die äußere Stille, das Zurückgeworfen sein auf sich selbst, und deren innere Wirkung. In seiner Sammlung von Gedanken versucht er, die Bedeutung dieser Qualität Stille (die natürlich auch eine spirituelle Dimension hat: Bei Elia offenbart sich Gott als „stilles, sanftes Sausen“ … Mir gefällt das. Gott ist die Stille. (16)) aufzuzeigen, und uns ihren Wert zu vermitteln. Den Fernseher einfach mal ausgeschaltet, das Tablet links liegen und das Smartphone in der Tasche zu lassen: hin und wieder die äußere Stille zu erzeugen, kann ein erster Schritt auf diesem Weg sein, den Kagge uns so trefflich weist. Alles andere ergibt sich dann von allein. Wer sich dem Abenteuer „Stille“ aussetzt und es einmal aushält, wird dessen Schönheit gewahr werden.

Wenngleich Kagge in seinen Miniaturen viele Beispiele und Gedanken zur äußeren Stille als Abwesenheit von Geräuschen gibt, Stille als Werkzeug oder Methode beschreibt, bestimmte Ziele zu erreichen, so ist sein grundlegendes Anliegen doch die innere Stille, das Zur-Ruhe-Kommen, das Wahrnehmen des eigenen Selbst. In keiner anderen Antwort allerdings hat er dies passender und prägnanter beschrieben, die schöneren und wahrhaftigeren Worte gefunden als in seinem letzten Beitrag (33), der all das zusammenfasst, was zu diesem Thema ‚eigentlich‘ zu sagen ist.

Und – auch das soll erwähnt werden – verpackt ist dies alles in einem wunderschönen Büchlein. Der Schutzumschlag in cremigem Weiß, mit einer angedeuteten Wellenlinie, die die Angaben zum Autor, Titel und Verlag symmetrisch teilt. Diese optische Klarheit, die Reduktion auf das Wesentliche zum Buch – sprich: die Vermeidung unnötigen Lärms – verdeckt die Unruhe des alltäglichen Lebens, den Ansturm äußerer Reize, den Straßenlärm, Lichterflut, Hektik, das Sich-beeilen-müssen…

So wird Stille auch eine wunderbare Geschenkidee für die gleichnamige Nacht, der ja leider so oft eine laute, nicht-stille Zeit vorauseilt…. und wie schön wäre es, wenn sich der/die eine oder andere durch Kagges Gedanken angeregt eine Ecke im Alltag ausgucken würde, in der er/sie sich täglich einfach für ein paar Minuten ausklinken könnte.

Links und Anmerkungen:

[1] so die Angaben im Klappentext. In diesem Beitrag der FAZ wird der Autor etwas ausführlicher vorgestellt: http://www.faz.net/aktuell/reise/ewiges-eis-wir-sind-alle-geborene-entdecker-14499322.html
[2] z.B. hier: https://www.moma.org/explore/inside_out/2010/06/03/marina-abramovic-the-artist-speaks/
[3] Zwei weitere Orte hier im Blog, die der ‚Stille‘ gewidmet sind:
Stillehttps://radiergummi.wordpress.com/2010/01/01/stille/ und
Reichtum der Stillehttps://radiergummi.wordpress.com/2012/01/01/reichtum-der-stille/

Erling Kagge
Stille
Ein Wegweiser
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg
Originalausgabe: Stillhet I Støyens Tid, Oslo, 2016
diese Ausgabe: Insel-Verlag, HC, ca. 140 S., 2017, mit Abbildungen (Fotos)

Ich danke dem Verlag für die Überlassung eines Leseexemplars.

15 Kommentare zu „Erling Kagge: Stille

  1. Auch wenn ich erst jetzt das Buch gelesen habe: Mir gefällt deine Besprechung besser als das Buch selbst. :-) Ich finde Stille wunderbar, auch wenn ich oft genug alles dafür tue, sie zu vermeiden. Liebe Grüße Anna

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    1. danke für das lob, das freut mich! was das cover angeht, ist ein größeres bild als link hinter dem thumb hinterlegt. mir gefallen bilder, die den halben bildschirm einnehmen, halt nicht so gut… ;-)

      liebe grüße zurück!
      gerd

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    1. liebe constanze, ganz herzlichen dank für deinen kommentar.

      ein schöner plan, mal eine zeit lang sich in einem kloster aus dem alltag auszuklinken. das kann anstrengend sein, weil man unter umständen tatsächlich auf sich selbst zurück geworfen wird und all das, was man möglicherweise im alltag verdrängt, auf einmal präsent ist. aber so ist das dann eben, kagge beschreibt dies ja an dieser künstlerin, die ‚present is‘. aber genau darin, damit umzugehen und sich dem zu stellen, liegt auch die befriedigung und der persönliche gewinn.

      mach es, versuch es!

      herzliche grüße
      gerd

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  2. Danke für die schöne Rezension dieses Buches, das ich mir sicherlich kaufen werde (Stille ist auch mein Thema. Neben dem grossen Thema „Sterben und Tod“)

    Wie Sie auch, lieber Herr flattersatz, ziehe auch ich mich immer wieder in Klöster und Zen-Zentren zurück, um in die Stille zu gehen. Mein erster Klosteraufenthalt vor vielleicht 30 Jahren war allerdings geradezu ein Fiasko. Nach nur 1,5 Tagen (geplant war eine Woche) musste ich abbrechen, ich habe die Stille nicht ausgehalten, empfand sie bedrohlich, unangenehm, extrem fordernd. Ich konnte mich ihr damals nur sukzessiv nähern, und es brauchte mehrere kurze Aufenthalte, bevor es mir zum Bedürfnis wurde, länger zu bleiben. Interessanterweise empfand ich die klösterliche Stille (damals!) bedrohlicher als die in Zendos, was vielleicht daran lag, dass ich in einem räumlich sehr grossen Kloster mit nur 4 Patres und Brüdern wohnte, und das auch noch im entferntesten Teil der Räumlichkeiten, wo man wirklich NICHTS hörte, nichts… Mittlerweile liebe ich die Stille sehr, und bin vor Jahren auch aus einer rheinischen Grossstadt in ein ostbayerisches Dorf gezogen, und lebe dort am Dorfausgang, nahe am Waldrand, und höre dort manchmal einen ganzen Tag lang ausser die Naturgeräusche nichts.

    Ja, das Buch werde ich mir sicher kaufen. Zumal Bücher des Insel-Verlages nie eine überflüssige Geldausgabe sind, und Ihre Rezension sehr neugierig macht.

    Freundliche Grüsse

    Der Waldler

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    1. Ich habe gerade Kagges Buch gelesen, allerdings in Englisch. Auch die englische Ausgabe ist sehr schön aufgemacht, allerdings ist das Cover nicht weiß sondern schwarz, was mir fast noch besser zur Stille zu passen scheint. Zu Beginn hatte ich Schwierigkeiten, mich mit dem Text anzufreunden, der mir etwas flatterhaft zu sein schien. Allerdings je weiter ich las, desto besser gefiel mir dieser Text. Besonders imponierte mir, dass er so geschrieben ist, dass ich als Leser zunehmend innerlich stiller wurde.
      Deine Rezension finde ich sehr gelungen. Vielen Dank dafür.
      Mit herzlichen Grüßen vom kleinen Dorf am großen Meer
      Klausbernd
      The Fab Four of Cley

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      1. lieber klausbernd, ganz herzlichen dank für deinen kommentar, der mich selbst wieder zurückgeführt hat zu diesem buch. es freut mich natürlich ebenso, daß dir meine rezension gefallen hat, im grunde, so schien es mir aktuell beim lesen, sagt dieser text fast mehr über mich aus als über das buch, das ich eher als kristallisationspunkt für eigene gedanken genommen hatte. es ist schade, so bedaure ich gerade, daß nicht mehr menschen die kraft, diese ungeheure intensität, die der stille innewohnt, schätzen und suchen, vlllt wäre es um unsere welt ein klein wenig besser bestellt… besser als mit den lauttönenden schreihälsen, die im moment die macht haben, auf jeden fall.
        liebe grüße auch an die anderen drei der Fab Four!
        gerd

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        1. Lieber Gerd,
          nachdem wir einen E-Mail-Austausch mit Erling hatten, werden wir auch eine Art Rezension von seinem Buch „Stille“ in unserem nächsten Blog bringen. Diese Besprechung ergänzt sich gut mit deiner, die wir anführen werden. Als „Vor-Geburtstagsgeschenk“ bekam ich vorgestern Kagges Buch „Gehen. Weiter gehen“ von Siri :-) und :-) Selma geschenkt. Hast du das bereits gelesen?
          Wir geben dir völlig Recht, die lauttönenden Schreihälse ruinieren unsere Welt.
          Ich habe das Gefühl, dass jeder Text, den ich schreibe, auch als Aussage über mich gelesen werden kann. Schreibend gibt man sich preis. Aber vielleicht ist ja dies das Spannende am Schreiben – sowohl für den Schreiber als auch für den Leser.
          Mit lieben Grüßen vom kleinen Dorf am großen Meer
          Klausbernd und der Rest der Fab Four of Cley

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          1. lieber klausbernd,

            danke für deine antwort, auf die ich diesmal schneller reagieren kann. nein, kagges neues buch kenne ich (noch) nicht, aber ich werde es mir umgehend besorgen. auch das gehen ist ja ein sehr altes mittel, zu sich selbst zu kommen, besonders das gehen in der alleinheit (ich vermeide extra den begriff: einsamkeit, denn einsam ist man beim gehen beileibe nicht, selbst wenn man ohne begleitung ist. das klingt ja schon in kagges „stille“ an (abramovic)).

            so bin ich gespannt und danke dir für deinen hinweis. im moment komme ich wenig zum lesen, ich weiß nicht, ob ich das positiv oder negativ empfinde, andere, spannende sachen beschäftigen mich: ich versuche mich, beim aufbau eines hospizes bzw. einer hospizlichen infrastruktur in meiner region zu beteiligen und das ist sehr interessant, aber auch zeitintensiv.

            den fab four ganz liebe grüße in das kleine dorf am großen meer…
            gerd

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          2. Lieber Gerd,
            wir wünschen dir gaaaaaaanz viel Erfolg mit dem Aufbau deines „Hospitzchen“ und drüpcken dir fest die Daumen, dass es ein Erfolg wird.
            Mit lieben Grüßen vom Meer
            The Fab Four of Cley

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